Ausklang des Chorjahres mit Dvořák, Puccini und Schubert

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Liebe Freunde der Kirchenmusik!
Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich schreibe diesen Brief noch unter dem gewaltigen Eindruck der Aufführung des Requiems von Giuseppe Verdi, welches wir am 19. Mai mit großem Erfolg aufgeführt haben. Über 550 Zuhörer verfolgten in gespannter Aufmerksamkeit dieses Konzert, fast 60 Instrumentalisten und 85 Chorsänger standen neben vier Solisten und dem Dirigenten auf dem Podium. Die Chorvereinigung hat weder Kosten noch Mühen gescheut, dieses bedeutende sakrale Werk des genialen Komponisten in gebührender Form zur Aufführung zu bringen. Jeder, der dabei war, wird diese Aufführung in der Jesuitenkirche in besonderer Erinnerung behalten, ist doch eine Aufführung dieses Werkes im sakralen Raum ein rares Erlebnis.
Wenn Sie dieses großartige und denkwürdige Ereignis noch mal erleben wollen: am Sonntag, dem 2. Oktober d. J., gibt es eine Wiederholung des Verdi-Requiems. Kartenbestellungen werden bereits angenommen (0664 3366464).
Schon neigt sich unser Arbeitsjahr dem Ende zu. Doch auch in den verbleibenden frühsommerlichen Wochen stehen großartige Schätze auf dem Programm der Chorvereinigung St. Augustin in der Jesuitenkirche. Die hochromantische Messe in D-Dur von Dvorak (5.6.), die „Messa di Gloria“ von Puccini (12.6.); und als grandioser Abschluss des Kirchenmusikjahres folgt schließlich die Messe in Es-Dur von Franz Schubert. Damit verabschieden wir uns nach 40 gesungenen Gottesdiensten und 2 Abendkonzerten in der Saison 2015/16 in die wohlverdiente Sommerpause. Das erste Hochamt im Herbst 2016 mit der Chorvereinigung findet am 4. September mit der „Krönungsmesse“ von Mozart statt.
Abschließend möchte ich Ihnen für Ihre Treue danken. In der Hoffnung, Sie auch im Herbst wieder bei uns begrüßen zu dürfen, wünsche ich Ihnen einen erholsamen Sommer!
Hartwig Frankl, Obmann

 

Zum Tod von KS Gabriele Sima

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Am 27. April 2016 ist Kammersängerin Gabriele Sima mit 61 Jahren nach schwerer Krankheit in Wien verstorben. Die Chorvereinigung St. Augustin trauert um das langjährige Mitglied unter unseren Solisten und drückt der Familie ihre tief empfundene Anteilnahme aus. Spontan haben wir die Messe in c-Moll von W.A. Mozart am 1. Mai ihrem Gedenken gewidmet. Auch unser Abendkonzert am 19. Mai mit Verdis Requiem war ein Grund, ihrer besonders zu gedenken, hat sie doch bei der ersten Aufführung am 21.5.2011 als Solistin mitgewirkt.
Gabriele Sima war mit uns seit vielen Jahren künstlerisch verbunden. Zum ersten Mal wirkte sie am 13.10.1998 bei der Aufführung des Requiems von Mozart unter Prof. Wolf mit, ihr letzter Auftritt war in der „Heiligmesse“ am 19.4.2015. Ihre Mitwirkung beim Abendkonzert und der Neuaufnahme der Messe in Es-Dur von Franz Schubert (1.6.2015) musste sie krankheitsbedingt absagen. Sie wirkte bei vielen Abendkonzerten und Hochämtern mit, neun CD-Aufnahmen zeugen von der beglückenden musikalischen Zusammenarbeit: Waisenhausmesse (2000), Schöpfungsmesse (2001), Messiah (2003), Mozarts Vesperae de Dominica (2006), Paukenmesse (2007), Theresienmesse (2008), Mozart-Requiem (2010), Christmette mit Krönungsmesse (2011) und Verdi-Requiem (2011). In besonderer Erinnerung bleibt auch die Konzertreise nach Rom zum Festival „Musica et Arte sacra“ im Oktober 2011, wo wir in der Kirche Sant Ignazio gemeinsam das Mozart-Requiem musizierten.
Am 2. Juni 2016 findet um 17 Uhr in der Jesuitenkirche eine Seelenmesse für Frau Gabriele Sima statt.

 

Sonntag, 5. Juni 2016, Antonin Dvořák, Messe in D-Dur op. 86

Die Messe D-Dur (Lužanská mše) op. 86 von Antonín Dvořák liegt in zwei verschiedenen Versionen vor: für Soli und Chor mit Orgelbegleitung (B 153) und mit Orchesterbegleitung (B 175).
Antonín Dvořák wurde von dem Architekten und Mäzen Josef Hlávka anlässlich der Einweihung von dessen neugebauter Schlosskapelle auf Schloss Lužany beauftragt, eine Messe zu komponieren, die in dieser Kapelle aufführbar war, was bedeutete, dass Dvořák auf eine Orchester-Besetzung oder größe-ren Chor – zunächst – verzichten musste. Dvořák komponierte das Werk zwischen dem 23. März und dem 17. Juni 1887. Am Tag der Fertigstellung schrieb der Komponist an seinen Auftraggeber:
„Sehr geehrter Herr Rat und lieber Freund! Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass ich die Arbeit (die Messe D-Dur) glücklich beendet habe und dass ich große Freude daran habe. Ich denke, es ist ein Werk, das seinen Zweck erfüllen wird. Es könnte heißen: Glaube, Hoffnung und Liebe zu Gott dem Allmächtigen und Dank für die große Gabe, die mir gestattete, dieses Werk zum Preis des Allerhöchs-ten und zur Ehre unserer Kunst glücklich zu beenden. Wundern Sie sich nicht, dass ich so gläubig bin – aber ein Künstler, der es nicht ist, bringt nichts solches zustande. Haben wir denn nicht Beispiele an Beethoven, Bach, Raffael und vielen anderen? Schließlich danke ich auch Ihnen, dass Sie mir die Anre-gung gaben, ein Werk in dieser Form zu schreiben, denn sonst hätte ich kaum je daran gedacht; bisher schrieb ich Werke dieser Art nur in großem Ausmaße und mit großen Mitteln. Diesmal aber schrieb ich nur mit bescheidenen Hilfsmitteln, und doch wage ich zu behaupten, dass mir die Arbeit gelungen ist.“
Die Uraufführung fand am 11. September 1887 unter der Leitung des Komponisten in der Schlosskapelle statt. Die Frau des Auftraggebers und Dvořáks Gattin sangen die weiblichen Solopartien.
Die erste öffentliche Aufführung fand am 15. April 1888 im Stadttheater von Pilsen statt. Die Instrumentalstimmen wurden in dieser Aufführung von zwei Harmoniums, Cello und zwei Kontrabässen übernommen. Diese Instrumentierung, von der nicht bekannt ist, ob sie von Dvořák selbst stammte, ist nicht erhalten.
1892 erschien die Messe beim Londoner Verlag Novello & Co. als op. 86 im Druck, nachdem der Komponist eine Orchesterbearbeitung erstellt hatte. Diese Orchesterfassung wurde am 11. März 1893 im Londoner Crystal Palace unter der Leitung von August Manns uraufgeführt.
Bei der Instrumentierung behielt Dvořák die Grundstruktur des Werkes weitgehend bei. Durch die Verwendung des Orchesters konnte der Komponist auch eine verfeinerte Dynamik anstreben, wodurch sich an einzelnen Stellen auch Auswirkungen auf die Stimmführung des Chores ergaben.
Dem Beginn des Kyrie stellte er eine kurze, zweitaktige Einleitung des Orchesters voran. Das Kyrie wirkt vor allem durch seine ausgefeilte und kontrastreiche Dynamik. Abweichend vom liturgischen Gebrauch beendet Dvořák den Satz mit einem erneuten „Christe eleison“. – Das Gloria beginnt in freudigem punktierten Rhythmus, der im Mittelteil mit einem besinnlicheren Abschnitt kontrastiert wird, ab der Erwähnung der Sünden der Welt von wachsender Unruhe geprägt ist und zum Schluss noch einmal feierlich die Herrlichkeit Gottes preist. – Das Credo, der längste Satz der Messe, ist in meh-rere Abschnitte untergliedert. Weite Abschnitte sind streng responsorisch gehalten: der Text wird abschnittsweise zunächst vom Alt, später vom Tenor bzw. den jeweiligen Solisten mezza voce vorgetragen und dann jeweils vom Chor tutti im Forte wiederholt. Der Abschnitt, der den Glauben an den ei-nen Gott bekennt, durchläuft harmonisch einmal den kompletten Quintenzirkel, Sinnbild für die Vollkommenheit Gottes. Das Leiden Jesu Christi wird in verminderten Septakkorden expressiv zum Ausdruck gebracht. Der Satz schließt mit einem feierlichen, imposanten „Amen“. – Sanctus und Benedictus sind durch das in identischer Weise vertonte „Hosanna in excelsis“ thematisch miteinander verknüpft. – Das Agnus Dei setzt mit einem kunstvollen Fugato der Solisten ein. Als einziger Satz der Messe endet es nicht in feierlichem Fortissimo, sondern mit der inständig im dreifachen Piano gehauchten Bitte um Frieden.
Die Aufführungsdauer beträgt ca. 35–45 Minuten. Aufgeführt wird die Orchesterfassung.

Die Solisten sind: Cornelia Horak, Heidi Brunner, David Sitka und Yasushi Hirano.
Zum Offertorium singt der Chor das „Ave verum“ von Mozart.

 

Sonntag, 12. Juni: Giacomo Puccini (1858-1924) „Messa di Gloria“

Giacomo Puccini war, wie seine Vorfahren, Kirchenmusiker in San Lucca, einer verschlafenen Provinzstadt in der Toskana. Als 20-Jähriger erhielt er den Auftrag, für den alljährlichen Gottesdienst zu Ehren des Schutzpatrons der Stadt, eine Motette und ein Gloria zu komponieren. Der öffentliche Erfolg des Werkes ermunterte ihn, die Komposition zwei Jahre später, vor Abschluss des Studiums, zu einer vollständigen Messe in As-Dur umzuarbeiten. Die Motette wurde zum Kyrie, das Gloria durch die Sätze Credo, Sanctus und Agnus ergänzt und am 12. Juli 1880 wurde die Messa a 4 voci con orchestra in Lucca uraufgeführt. Es ist sein umfangreichstes Werk außerhalb seiner Opern.
Die für großes Ensemble (mit 3 Posaunen und Tuba) orchestrierte Partitur scheint jahrzehntelang nicht mehr aufgeführt worden zu sein. 1883 verließ Puccini Lucca und studierte in Mailand, um Opernkom-ponist zu werden. Er verwendete zwei Sätze der Messa in späteren Opern: Das Kyrie erscheint als Orgelstück in „Edgar“ (komponiert 1892), das Agnus Dei als Madrigale im 2. Akt von „Manon Lescaut“ (1893). Nach 10 Jahre langer Erfolglosigkeit als Opernkomponist, bearbeitete er das Werk nochmals, legte es aber beiseite, als mit der Oper „Manon Lescaut“ der Welterfolg kam.
Dass die schlagkräftigen und dabei geschmeidigen Melodien des 20-jährigen Komponisten deutlich opernmäßigen Charakter tragen und den Einfluss Bellinis und Verdis verraten, ist kein Zufall. 1876 war der mittellose Puccini mehrmals zwischen Lucca und Pisa hin- und hergewandert, um einige Aufführungen von Verdis „Aida“ zu erleben. Sie wurden zum entscheidenden Anstoß, um sich in Mailand ganz auf die Oper zu konzentrieren.
Nach dem 2. Weltkrieg stieß der Puccini-Biograph Fra Dante Del Fiorentino, der Puccini noch persönlich kennengelernt hatte, auf das Werk. Zu einer ersten Wiederaufführung kam es am 12. Juli 1952 in Chi-cago. Der große Umfang des Gloria, der diesen Satz zum Kern der Messa werden ließ, führte zur nicht originalen Bezeichnung „Messa di Gloria“.

Die Solisten sind: Ilker Arcayürek (Tenor) und Josef Wagner (Bass).
Zum Offertorium singt der Chor die Motette „Os justi“ von Anton Bruckner.

 

Sonntag, 26. Juni: Franz Schubert (1797-1828), Messe in Es-Dur, D 950

Immerhin ist es Franz Schubert, anders als zum Beispiel Wolfgang Amadeus Mozart, vergönnt gewesen, sein letztes großes oratorisches Werk zu Ende zu komponieren – und zu was für einem Ende! Ein langsames und herzzerreißendes Kreuzmotiv als Fugatothema wird gekoppelt an einen charakteristi-schen Kontrapunkt aus einer aufsteigenden Quart und einem aufsteigenden Tritonus, dem „Teufel in der Musik“. Dieses musikalische Material ermöglicht und erzwingt kühnste harmonische Wendungen und Klänge, die in ihrer Modernität bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ragen. Spätestens mit diesem Agnus Dei erreicht Schubert den ein Jahr vor ihm verstorbenen Beethoven.
Kommt das Kanonthema des Agnus nicht bekannt vor? Es ist bekannt, denn Schubert verwendet es in dem Lied „Der Doppelgänger“ als ostinates Motiv der Klavierbegleitung. „Der Doppelgänger“ erscheint posthum in der Zusammenstellung „Schwanengesang“, in dem Schuberts letzte Lieder aus Marketing-gründen zusammengefasst unter einem Titel veröffentlicht werden, obwohl er kein eigentlicher Zyklus von Liedern ist, die einen inneren Zusammenhang haben.
Wie hilft uns die aufgezeigte Verbindung der beiden Werke aus den letzten Lebenswochen Schuberts weiter, um quasi hinter die Kulissen des Komponisten schauen zu können? Franz Schubert war zwar erst dreißig Jahre alt, aber schon seit Jahren schwer krank. Äußerlich einsam war er wohl nicht, aber sein Leben durchzieht unerfüllte Liebe (um die es viele Spekulationen gibt) und auch eine Todessehnsucht, die in seinen Liedern immer wieder besungen wird. Auch „Der Doppelgänger“ handelt von die-sen beiden biografischen Leitmotiven. Der Text des „Agnus Dei“ handelt seinerseits davon, dass ein Mensch leidet, sich hingibt als „Lamm Gottes“. Das Leiden und seine Ursache, also die Art des Leidens, wird durch das Kreuzmotiv bildlich gemacht: Christus stirbt am Kreuz: verkannt, verlacht, verlassen. So fühlt sich auch der Doppelgänger, und vielleicht hat sich Franz Schubert hiermit identifiziert – und sehr bald danach stirbt auch er, tragischerweise als seine Musik den Durchbruch erlebt.
Die Es-Dur Messe wird ein Jahr nach dem Tod des Komponisten unter Leitung seines Bruders mit großem Erfolg uraufgeführt. Dennoch dauert es noch geraume Zeit, bevor Robert Schumann das Manu-skript der Messe bei Schuberts Bruder wiederentdeckt und eine Veröffentlichung dringend empfiehlt.
Es handelt sich um Schuberts 6. lateinische Messe. Vom Genre her zeitlich am nächsten steht ihr die 1826 entstandene populäre „Deutsche Messe“. Zwar ist diese musikalisch um Lichtjahre von der Es-Dur Messe entfernt, aber auffällig ist, dass sie dieselbe Bläserbesetzung verwendet. In beiden Fällen ver-zichtet Schubert auf die Flöten und damit auf weiche hohe Töne im Bläsersatz. Das ist von Bedeutung, denn weite Teile der Es-Dur Messe werden ohne Streicher nur von den Bläsern begleitet, wenn nicht der Chor gar a cappella singt.
Viel ist geschrieben und spekuliert worden über die Änderungen und Auslassungen am liturgischen Messetext, die Schubert in der Es-Dur-Messe vornimmt. Im Credo lässt er unter anderem den Glaubenssatz „Credo in unam sanctam catholicam ecclesiam“ (Ich glaube an die eine heilige katholische Kirche) weg und wiederholt dafür „et incarnatus est“ sowie „crucifixus“. Die Auslassung findet sich schon in der 5. Messe in As-Dur, so dass von einem Versehen, wie manche spekulieren, keine Rede sein kann. Hier zeigt Schubert meines Erachtens sehr deutlich, an was er nicht glauben kann und was ihm wichtig ist.
Die formale Anlage der Messe in Es wiederum ist sehr nah an der, die sich im Laufe der Jahre heraus-gebildet hat bei den großen Messvertonungen. Insbesondere komponiert Schubert – wie die meisten Tonsetzer vor und nach ihm – sowohl im Gloria als auch im Credo jeweils eine große Schlussfuge. Wenn ich zu Beginn auf die Fugenstruktur im Agnus eingegangen bin, so ist diese doch „nur“ die Quintessenz aus den beiden vorhergehenden gigantischen Fugen, die in ihrer formalen Klarheit und harmonischen Kühnheit alles von Schubert vorher komponierte weit hinter sich lassen. Schubert nimmt zum Ende seines Lebens Unterricht in Kontrapunkt bei Simon Sechter, der später auch Bruckner unterrichten sollte. Die hier von Schubert präsentierten Ergebnisse der Studien sind umwerfend und grandios. Nicht zuletzt nähert er sich dem größten Kontrapunktiker des deutschen Sprachraumes an. Und gibt – wie dieser – ein sehr persönliches Glaubensbekenntnis ab. (Text: Christoph Schmidtpeter)
Die Solisten sind: Monika Riedler (Sopran), Martina Steffl (Alt), Gernot Heinrich (Tenor I), Jan Petryka (Tenor II) und Klemens Sander (Bass).
Zum Offertorium singt der Chor die Motette „Locus iste“ von Anton Bruckner.
Sie können am Ende des Gottesdienstes eine Neuaufnahme der Messe (Konzertmitschnitt vom 1.6.2015) beim Kirchenausgang erwerben (€ 18,–).

Ankündigung:

Sonntag, 4. September 2016: W. A. Mozart – „Krönungsmesse“

Giuseppe Verdi, Messa da Requiem
Konzert am 19. Mai 2016

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Eine Werkeinführung zum Vor- oder Nachlesen, aus der Perspektive eines Mitwirkenden.
Von Martin Filzmaier

Zu Verdis Requiem können Sie ausführliche musikwissenschaftlich relevante Informationen den Konzertführern oder auch den bemühten Wiki- und anderen -pädien im Internet entnehmen. Sie erfahren dort, dass Verdi diese Totenmesse nach dem Tod des Dichters Alessandro Manzoni im Jahre 1874 geschaffen hat. Er verwendete dafür den „Libera me“-Schlusssatz, den er für die als Gemeinschaftswerk konzipierte „Messa per Rossini“ komponiert hatte. Sie lesen ferner, dass Verdis Requiem oft als seine „schönste Oper“ beschrieben wird. Obwohl das Requiem als erste Komposition seiner Art, also eine Totenmesse der katholischen Kirche, nicht für die Verwendung in der Liturgie, sondern als Werk für den Konzertsaal geschaffen wurde und natürlich Verdis musikalische – durch und durch „opernhafte“ – Tonsprache verwendet, ist es dennoch geistliche Musik.

Worum geht es nun in dieser schönen Oper „Messa da Requiem“? – Um den (individuellen) Tod, würde man meinen, da eine Totenmesse ja meist ihren Anlass im Ableben einer konkreten Person hat. Tatsächlich beginnt die Totenmesse ja im Pianissimo, mit der Bitte für die Toten („… und das ewige Licht leuchte ihnen“) und mit der Anrufung „Herr, erbarme Dich“. Mit dem Beginn der Sequenz, dem Dies irae wendet sich jedoch das Blatt. Es ist, als würde nach der Einstimmung, dem Prolog, erst jetzt der Vorhang aufgezogen. – Und es eröffnet sich großes Welttheater! Nicht mehr um Sterben, Ruhe und Frieden geht es hier, sondern um die letzten Dinge, um das große Aufräumen, das endgültige, letzte, also „jüngste“ Gericht, „judex (…) cuncta stricte discussurus“, bei dem der große Weltenrichter sich ganz genau anschauen wird, was in den vielen Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte so alles an Verfehlungen, Verbrechen und himmelschreiendem Unrecht begangen wurde.

Natürlich erfasst der Operndramaturg Verdi, dass bei so einem Thema die gesamte Maschinerie aufgefahren werden muss. Und es ist ja auch ein starker Text, der da aus dem 13. Jahrhundert auf uns gekommen ist! Hier ist definitiv Schluss mit lustig, alle erzittern, erschauern, erbeben nur mehr vor der ungeheuren Gewalt, mit der die unüberschaubare Menge an Unrat/Unrecht hinweggefegt wird; nein, nicht nur hinweggefegt, sondern „solvet saeclum in favilla“, die ganze Welt lässt er vergehen in Staub und Asche, dieser Tag des reinigenden Zorns.

Jetzt ist er da, Er, der Richter, „stricte discussurus“ – und nun passiert vor unseren Augen und Ohren etwas, was so noch nie vertont wurde. Denken Sie an Mozarts wunderschöne Posaunen-Kantilene des „Tuba mirum“: Nichts davon bei Verdi! Hier inszenieren die von Ferne (und in der Jesuitenkirche von den Seitenemporen) ertönenden Bläser die letzten Posaunenklänge des Jüngsten Gerichts – und „schön“ ist das nicht, was hier auf uns zukommt. In den 26 Takten dieser genialen Komposition erfahren wir gebannt, was es heißt, die Toten aus ihren Gräbern zu rufen. Da wird keine freundliche Einladung ausgesprochen: in tiefstem Ernst und höchster Dringlichkeit ertönt dieser letzte Weckruf, „Coget omnes ante thronum“ – er zwingt (uns) alle vor (seinen) Thron. Am Höhepunkt dieser Steigerung können wir nur mehr entsetzt aufschreien „tuba mirum spargens sonum“, aber nicht wie Menschen, die den wunderbaren Klang dieser Posaune hören, sondern wie Menschen, denen es jetzt an den Kragen geht! Alle Lebenden werden gerichtet, und auch die Toten: „Mors stupebit“ – der Tod und unsere sterbliche Natur, die ja immer das letzte Wort hatten, werden – ja, „stupere“, wie übersetzt man das? Verblüfft sein? – das Nachsehen haben, wie vor den Kopf gestoßen sein, wenn sich auf einmal alle Kreatur aus dem Grab erhebt, um vor ihren Richter zu treten. Schon entfaltet sich das Gericht: ein Buch „in quo totum continetur“ wird vorgebracht – die gesamte Menschheitschronik – und da wird alles aufgedeckt, was so in den Jahrhunderten unter den Teppich gekehrt wurde, nichts bleibt ungestraft (und unbelohnt, müsste man hinsichtlich des vielen Guten, das auch getan wurde, ergänzen – doch dieser Aspekt spielt hier überhaupt keine Rolle), „dies irae“, wirft der Chor immer wieder flüsternd ein, damit wir nicht vergessen, worum es hier geht. Immer auswegloser wird die Situation, was soll ich antworten, womit kann ich  mich rechtfertigen, wen kann ich mir zu Hilfe rufen, wo doch sogar der Gerechte kaum bestehen kann?

Rex tremendae majestatis, antwortet der Chor. Das kann man kaum übersetzen: „König von zu erzitternder Erhabenheit“ klingt gekünstelt, holprig und bei weitem nicht so ehrfurchtgebietend wie das lateinische Original. Mit c-Moll und As-Dur ist es jedoch nach ein paar Takten vorbei, denn der vermeintlich schreckliche Weltenrichter stellt sich als „der ganz Andere“ (die vielleicht verblüffendste Eigenschaft Gottes) heraus, als „fons pietatis“, also ein Quell von Milde und Nachsicht, der sich derer, die noch zu retten sind („salvandos“), „gratis“ erbarmt. Das bekommt nach den Solisten auch der Chor mit, der dann immer drängender, „salva, salva me!“ seine Rettung einfordert.

Der Weltenrichter ist nun als Christus Jesus identifiziert, der von den Solisten an die Heilstaten seines Erdenlebens erinnert wird. Der Chor jedoch ahnt, dass es ihm wohl doch an den Kragen gehen wird und rollt noch einmal das „Dies irae“-Geschrei aus, bevor er nach der Bitte um Verschonung schließlich im „dona eis requiem“ endet: „gib ihnen (die ewige) Ruhe“.

Das große Welttheater der Sequenz ist nun vorbei. Szenenwechsel. Die Solisten bestreiten das Offertorium; Sanctus und Benedictus sind eine flotte, heitere, doppelchörige Doppelfuge – da singen wohl die Engel im Himmel, und von der zu Staub gewordenen Welt ist nichts mehr zu sehen. Völlig losgelöst vom vormaligen Drama des Weltgerichts ist auch das Agnus Dei. Ort der Handlung: das himmlische Jerusalem; in seiner Mitte das Lamm, das von den Solistinnen unisono angebetet wird. Die überirdische Atmosphäre wird auch vom Chor übernommen, der am Ende nochmals für die Toten („dona eis requiem sempiternam“) bittet. Das schließlich solistisch vorgetragene „Lux Aeterna“ behält die Perspektive „aus dem Himmel herab“ bei und verklingt im Pianissimo dolcissimo.

So idyllisch-versöhnlich endet Verdis Requiem jedoch nicht. Der letzte Abschnitt, das „Libera me Domine“, führt uns noch einmal zurück an den Tag des Jüngsten Gerichts, betont allerdings den zuversichtlicheren Teil der christlichen Heilslehre. Dieser lässt sich in der alten Anrufung „per iudicia tua libera nos, Domine!“ zusammenfassen, „durch Deine Gerichte befreie uns, o Herr!“. Diese Tradition sieht das Weltengericht nicht als Bedrohung, sondern als ultimativen Befreiungsschlag Gottes, der endlich seine Kirche von der Bedrängnis irdischer Verfolgung erlöst. Sogar das ängstliche „tremens factus sum ego et timeo“ wird vom anfänglichen c-Moll im Schlussakkord in verhaltenes, aber lichtes C-Dur aufgelöst. Dies kontrastiert der Chor mit einer nochmaligen dramatischen Reminiszenz an den „Dies irae“, der jetzt als ein „dies magna calamitatis et miseriae“ beschrieben wird, und klingt schließlich völlig düster und in Hoffnungslosigkeit aus.

Diese wird in eine äußerst verhaltene, abschließende Bitte „requiem aeternam dona eis, Domine“ übergeführt, und das Werk verklingt schließlich im vierfachen Pianissimo. – Könnte man meinen.

Doch die Sopranistin wirft neuerlich, gebetsmühlenartig („senza misura“) das „Libera me, Domine, de morte aeterna“ auf und führt schließlich den Chor zu einem „Allegro risoluto“ desselben Textes, einer meisterhaften Fuge, in der die Befreiungsbitte nochmals in letzter Eindringlichkeit vorgetragen wird.

Das Werk endet – nun wirklich – im dunkelsten C-Dur, das man sich vorstellen kann, „morendo“, „sterbend“ also, kaum mehr hörbar, in den Bitten des Chors: „Libera me“.