Das erste Vierteljahrhundert
Ein Rückblick: persönliche Anmerkungen von einem, der von Anfang an dabei war
Die Chorvereinigung begann, als im Jänner 1993 der gesamte Chor seine Heimatpfarre St. Augustin verließ. Dies geschah als Reaktion auf die Entlassung des jahrzehntelangen Regens Chori, Friedrich Wolf, aus dem Dienst in der Augustinerkirche. Die Gründe dafür sind vielschichtig und wurden mehrfach kolportiert. Unvereinbare Positionen, was den Fortgang der Kirchenmusik, das Markenzeichen von St. Augustin, anging, und ein offenbar unversöhnliches Zerwürfnis zwischen dem neuen Pfarrer mit einem Teil des Pfarrgemeinderats einerseits, und dem Regens Chori andererseits war aber schließlich der letzte Auslöser.
Der normale Vorgang wäre wohl gewesen, dass der Leiter geht, der Chor bleibt und einen neuen Leiter bekommt; doch nicht ganz zu Unrecht empfand wohl der Pfarrer den Chor mit seinem Leiter als (gegen ihn?) verschworene Gemeinschaft. Die lapidare Mitteilung des Pfarrers an den Chor, am kommenden Sonntag würde ein anderes Ensemble den Gottesdienst gestalten, war ja quasi ein Hinauswurf aus der Kirche. Dazu hatte aber der Chor niemals Anlass gegeben und empfand diese Behandlung als schweres Unrecht. Ein Eklat – und eine Demonstration! Der gesamte Chor stand während dieses Gottesdienstes im Jänner 1993 schweigend im Kirchenschiff verteilt, während ein anderes Ensemble oben auf der Empore die Musik gestaltete.
Damit war die Trennung perfekt. Es folgte ein hässlicher Rosenkrieg unter anderem um den Notenbestand, dessen Besitzverhältnisse nicht eindeutig zu klären waren. Der damalige Weihbischof Christoph Schönborn wurde zur Vermittlung gebeten, der Anwalt der Erzdiözese eingeschaltet – alles weitgehend erfolglos. Es blieb Verbitterung und eine monatelange Heimatlosigkeit für den Chor.
Hier stand also ein damals durchaus national wie international renommiertes Ensemble aus 70 Mitwirkenden mit der vielleicht berühmtesten Figur der Wiener Kirchenmusikszene: die „Kirchenmusik St. Augustin“ mit ihrem Professor Wolf – ab sofort eine Kirchenmusik ohne Kirche.
Klar war von Anfang an: es sollte weitergehen. Doch ohne Probenlokal, ohne Noten (!), ohne Aufführungsort…? Wie sollte das möglich sein? Die „Chorvereinigung St. Augustin“ konstituierte sich als Verein, als erster pfarrunabhängiger Kirchenmusikverein überhaupt. Erst im Zuge von vielen Monaten provisorischen Unterkommens in verschiedenen Probenräumen, etwa im Bundesgymnasium Hagenmüllergasse, konnten auch regelmäßige Auftrittsorte gefunden werden, etwa in der Rochuskirche. Sogar diplomatische Fäden wurden gezogen, um den Chor sinnvoll unterzubringen. Unser jetziges Ehrenmitglied (und immer-wieder-Gastsänger) John Buche aus Washington, damals noch im diplomatischen Dienst für die USA in Wien, erreichte gemeinsam mit dem ersten Obmann Dr. Otto Grumbeck ein Unterkommen in der „Nationalkirche“ der Italiener in Wien, der Minoritenkirche. Doch waren das alles keine nachhaltigen Lösungen: ein Ensemble wie die Chorvereinigung wird in einer Kirche ohne Tradition in der Kirchenmusik – und daher auch ohne Bedarf dafür – eher als Störfaktor empfunden, ist im Grunde unwillkommen und bleibt letztlich ein großer Fremdkörper. Nach langen Verhandlungen konnte schließlich ein „Deal“ mit dem damaligen Kirchenrektor der Universitätskirche, P. Leo Wallner SJ, eingefädelt werden. Die Jesuiten ließen sich von Wolf und Obmann Dr. Grumbeck, breitschlagen (man darf das ruhig so ausdrücken), sich das riesige Kuckucksei eines großen Kirchenmusikensembles ins Nest setzen zu lassen – ein Ensemble, das noch dazu mehr oder weniger jeden Sonn- und Feiertag Musik machen wollte, als zweiten Chor, zum dort seit vielen Jahren wirkenden Consortium Musicum Alte Universität hinzu.
Glücklicherweise war die Chorvereinigung aber weder auf ihrer Wanderschaft, noch bei der Eingliederung in die Universitätskirche von allen guten Geistern verlassen. Die meisten der exzellenten Musiker und Solisten, die in St. Augustin jahrelang mit uns gearbeitet hatten, diese guten Geister, folgten uns an die neuen Wirkungsstätten; viele davon halten uns bis heute die Treue. Ebenso folgten nach und nach viele unserer langjährigen treuen Besucher von St. Augustin, wenn sie uns denn in dieser ganz anderen Ecke der Innenstadt gefunden hatten.
Es ist dem unermüdlichen Einsatz von Friedrich Wolf für die Kirchenmusik, für „seinen“ Chor, und der unverbrüchlichen Loyalität „seiner“ Leute zu verdanken, dass das Ensemble sich in der neuen Heimat in gewohnter Qualität einwurzeln und durch sein Wirken überzeugen konnte, schließlich von den Jesuiten und von der Gemeinde auf- und angenommen wurde, und heute wohlgelittener – ich möchte behaupten – unverzichtbarer Teil der Gemeinschaft geworden ist.
Dieses „Nest“ Jesuitenkirche mit ihrem „Kuckucksei“ Chorvereinigung St. Augustin hat sich seither erheblich verändert. Und die Chorvereinigung auch. Hier wuchs etwas zusammen, was sich über die Jahre hinweg zu einem der geglücktesten Kunst- und Liturgieprojekte in Österreich, weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, entwickelt hat. Es gibt nun kaum mehr Sonn- oder Feiertage ohne Kirchenmusik mit Chor und Orchester. Die vor unserer Zeit an vielen Sonntagen vergleichsweise spärliche Gemeinde wuchs enorm und füllt nun den Kirchenraum jeden Sonntag mit einer großen feiernden Gemeinschaft, oft an die Fassungsgrenzen. Es wäre jedoch falsch, würde man meinen, dass nur die Attraktivität hochwertiger Kirchenmusik diese Entwicklung befördert hat. Auch die Jesuiten selbst konnten nun ihre Qualitäten vor größerem „Publikum“ ausspielen und viele Menschen durch ihre erfreuliche Willkommenskultur und ihre theologischen Qualitäten zu treuen, regelmäßig mit uns Mitfeiernden machen. Die Kirchenrektoren der letzten 25 Jahre haben einen großen Anteil an dieser wunderbaren Entwicklung. P. Dr. Gustav Schörghofer SJ, der mit seinem speziellen – wenn auch nicht für alle bekömmlichen – Stil und seinen legendären Predigten so etwas wie eine eigene große Fangemeinde hatte, darf hier eigens erwähnt werden. Die Musiker und Solisten betonen immer wieder, wie sehr sie die Einbindung in die Liturgie – augenscheinlich gemacht durch das „vorne“ statt „oben“ Musizieren – schätzen. Niemals sind Chor, Orchester und Solisten Aufputz oder Staffage der Gottesdienste, sondern integrierter Bestandteil der Liturgie und der Gottesdienstgemeinschaft. Diese gegenseitige Wertschätzung ist in allen Phasen des gemeinsamen Wirkens zu spüren und erzeugt eine freudvolle Atmosphäre gegenseitiger künstlerischer und spiritueller Befruchtung.
Es war immer das Bestreben der Chorvereinigung, nicht „Konzertchor in der Kirche“, sondern Teil der Liturgie zu sein. Dies gelang. Als Prof. Wolf sich nach 11 Jahren unermüdlicher (und unbezahlter!) Arbeit mit der Chorvereinigung schließlich zurückzog, konnte er seinen Nachfolgern ein solides, gut geschultes Ensemble mit großem Repertoire übergeben.
Der erste dieser Nachfolger, Herbert Ortmayr, scheiterte leider schon bald an dem viel zu großen Paket, das er von Wolf übernommen hatte. Noch gab es keine echte Struktur der Arbeitsaufteilung im Verein, und die viele Arbeit, die Wolf aus der Tradition eines Regens Chori in St. Augustin weitestgehend alleine mit seiner Frau Maria geleistet hatte, fiel jetzt auf einen darauf kaum vorbereiteten neuen Chef. Seine gute, solide Arbeit unter schwierigen Bedingungen stand für die vielen, die oft jahrzehntelang mit Wolf gearbeitet hatten, im Schatten seines übermächtigen Vorgängers und blieb vielfach unbedankt.
Speziell unter seinem Nachfolger Andreas Pixner fand eine deutliche Blutauffrischung im Chor – vor allem im Sopran – statt, ein echter Generationenwechsel. Wolf hatte sich zurückgezogen, weil ihm in der Pension die pädagogische Akademie nicht mehr als Quelle für Chornachwuchs zur Verfügung stand; Pixner konnte seine Quelle, das Musikgymnasium, voll nützen. Nicht nur die Altersstruktur, auch der Musizierstil veränderte sich, und wie jeder musikalische Leiter setzte und setzt er seine eigenen Akzente. Die Herangehensweisen und Arbeitsweisen der musikalischen Leiter mögen unterschiedlich sein; die Maxime „keine Kompromisse bei der Qualität“ wurde jedoch von Anfang an hochgehalten. Andreas Pixner arbeitet nun auch schon wieder 13 Jahre mit uns, und sehr viele Sängerinnen und Sänger haben nie einen anderen Chorleiter erlebt. Eine persönliche Anmerkung erlaube ich mir hier: Seine hoch konzentrierte, genaue und äußerst produktive Probenarbeit – zusammen mit einem Glücksfall als Korrepetitor namens Max Schamschula – ist unter den Wiener Chören eine Klasse für sich und hat unseren Chor in die oberste Spielklasse geführt. Schon dafür hat er meine höchste Wertschätzung – auch wenn ich mir als „Altmitglied“ das Privileg herausnehme, nicht mit allen Interpretationen und Tempi gleich glücklich zu sein. – Sollte ich aber einmal an den Punkt kommen, mit allem uneingeschränkt zufrieden zu sein, erinnern Sie mich bitte daran, dass ich mich ins Chor-Ausgedinge zurückziehe.
Kirchenmusik unter solchen Voraussetzungen – Regelmäßigkeit und Streben nach musikalischer Perfektion – ist ein Wiener Spezifikum. In ganz Europa gibt es in der Kirchenmusik lediglich eine Handvoll Ensembles in dieser (schon oben erwähnten) Spielklasse, und die Chorvereinigung freut sich, unter diesen einen prominenten Platz einnehmen zu dürfen. Es möge uns an dieser Stelle das Eigenlob, ja vielleicht die Hybris, erlaubt sein, sich als „erste Adresse“ der Kirchenmusik zu verstehen. Ermöglicht wird so etwas durch Inspiration und Transpiration: konsequente harte Arbeit („bei einer Probe sitzt man eh nur und singt“, meinen die ganz Ahnungslosen) und bedingungsloses Streben nach höchster Qualität der Aufführungen; durch Sängerinnen und Sänger, die sich diese Arbeit Woche für Woche antun wollen, weil sie nach allen Mühen einfach unglaublich viel Freude macht; durch die Mitwirkung der besten SolistInnen und OrchestermusikerInnen, die man nicht durch Bezahlung halten kann, sondern nur durch die Sing- und Spielfreude, die richtigen Rahmenbedingungen und die entsprechende Qualität der anderen Mitwirkenden; und schließlich durch einen Leiter, der das alles im Sinne des Gründungsgedankens zusammenhält und vorantreibt, der „gute Leute“ zu beständiger Mitarbeit motivieren und die besten Kräfte an die Chorvereinigung binden kann. Nicht ganz unwichtig bei alldem ist aber auch eine Vereinsstruktur, deren Funktionäre sich als Diener des Projekts verstehen, die die vielen oft unbemerkten Arbeiten übernehmen, die nun einmal mit so einem großen „Unternehmen“ verbunden sind, und die damit helfen, das alles am Leben zu erhalten. Ermöglicht wird unsere Arbeit auch und maßgeblich durch die „Hausherren“, die Jesuiten: ohne das wunderbare Einvernehmen mit Kirchenrektor Dr. Friedrich Sperringer SJ und P. Dr. Alois Riedelsperger SJ käme bald Sand ins Getriebe. – Diese beiden, sowie die anderen Jesuiten von Wien I. spenden jedoch – um im Bild zu bleiben – Öl, und die gute Zusammenarbeit läuft wie geschmiert.
Während der Chor seine Tätigkeit ehrenamtlich ausübt, werden der musikalische Leiter, die Musiker und Solisten, wie bei allen Ensembles dieser Art, bezahlt. Speziell groß besetzte Messen kosten € 3.000 und mehr, Neueinstudierungen mit Orchesterproben und Abendkonzerte oft € 7.000 und darüber. Das ist sehr viel Geld. Dass die Finanzierung seit 25 Jahren funktioniert, ohne dass wir zu Grunde gegangen wären, ist schon für sich betrachtet ein mittelgroßes Wunder und einzigartig in der Welt der Kirchenmusik. Einige großzügige Sponsoren und die Mitfeiernden im Gottesdienst (die Kollekte nach dem Hochamt an der Kirchentüre deckt etwa die Hälfte des Budgets), also viele Menschen, die auch finanziell einen Beitrag zu leisten bereit sind, machen das möglich.
Menschen, die jeden Sonntag in der Früh singen gehen, und jeden Dienstag Abend proben, und das ganze noch dazu unbezahlt, sind irgendwie seltsam. Zumindest in der Sicht vieler Außenstehender. Man muss ja nicht alle in gleicher Weise mögen, und der eine oder andere seltsame Vogel (der Autor mit eingeschlossen) wird schon auch dabei sein – aber ich kann bezeugen, dass diese Chorvereinigung aus der geringsten Zahl eigenartiger Leute besteht, die ich irgendwo sonst im Musikbetrieb gefunden habe. Viele sind einander nicht nur kollegial, sondern freundschaftlich verbunden. Konflikte sind in Gemeinschaften unvermeidlich, halten sich aber in sehr überschaubaren Grenzen, und alles in allem ist es einfach eine Freude, in dieser großartigen Gemeinschaft mitwirken zu dürfen. Dieser Aspekt ist möglicherweise der wichtigste Faktor für das anhaltende Funktionieren dieses tollen Unternehmens.
„Cantare amantis est“ hat sich der Chor als Motto vom Heiligen Augustinus aus seiner alten Wirkstätte mitgenommen, und seinen Namen, weil „St. Augustin“ damals der Inbegriff für die allerbeste Kirchenmusik war. Nach 25 Jahren kann man sagen, dass das Modell – wie einzigartig es auch sein mag – funktioniert.
Ich wurde gebeten, diesen Artikel zu verfassen, weil ich mir seit meinem Eintritt im Oktober 1988 ein wenig Erfahrung und Überblick erworben habe, und weil das Singen mit der Chorvereinigung ein ganz wichtiger Teil meines Lebens geworden ist. Auch wenn meine berufliche Tätigkeit inzwischen mehr und mehr an der Regelmäßigkeit meiner Mitwirkung nagt, freue mich, soweit ich kann, noch ein wenig beitragen und schon so lange Teil dieser Gemeinschaft sein zu dürfen.
Martin Filzmaier, Obmann-Stellvertreter
Das Schlusswort gehört einem Solisten, einem ziemlich berühmten Sänger, den Verpflichtungen im In- und Ausland daran hindern, öfter bei uns zu sein, der aber bei uns singt, sooft er eben kann – „egal, was“. – So gehört nach einem Hochamt:
„Es is aafoch so scheen“